Aventszeit - مجئ المسيح

Veröffentlicht auf von liviinbeirut

Es ist adventlich in der NEST geworden:  Man trifft sich zum Basteln, Dekorieren, Glühwein trinken, Kekse essen, singen. Bei alledem kommt man sich langsam selbst auf die Schliche: Wie sehr man doch im fremden Land plötzlich auf alteingesessene, deutsche  Adventstraditionen besteht und sie mit viel mehr Elan und Passion auslebt als man es vermutlich unter normalen Umständen tun würde. Es ist eben ein Stück Heimat und ein Stück Identität, das man damit versucht zu konservieren.

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Zwischen all dem heimatlichen Advents-Firlefanz ist aber selbstverständlich auch noch Zeit für Unternehmungen, die mein Bild von Land und Leuten weiter schärfen können.

So zum Beispiel eine Feierlichkeit in der maronitischen University of the Holy Spirit in Kaslik am Independence Day (22.November), an der ich zusammen mit Natalia und ihrem ägyptischen Freund Mario teilgenommen habe. Unter dem Motto des Tages: “It’s time to believe in the Gospels“ wurden Theaterstücke aufgeführt, Reden gehalten, gemeinsam gebetet und als „Highlight“ prozessierte der Melkitische Bischof  vom Mount Lebanon durch die Theaterhalle, begleitet von seinen „Messdienern“ und einer Menge Weihrauch und anderem Brimborium. Auch wenn ich den Reden und Gebeten nur sporadisch durch Marios Übersetzungsarbeit folgen konnte, war diese Veranstaltung für mich ein weiterer Beleg für die bereits erwähnte Christusfrömmigkeit der Menschen hier. Alles drehte sich um das Amt und Wirken Jesu auf Erden und unseren Auftrag das Evangelium zu bezeugen und in dieser Welt zu aktualisieren. Die spirituelle Atmosphäre der Feierlichkeiten war interessant und spannend, aber wieder einmal völlig inkompatibel mit meinen ästhetischen Vorstellungen. Ein solches Happening würden in unseren Breitengraden wohl nur besonders fromme oder aber charismatisch-gepolte Christen besuchen und von der Mehrheit eher skeptisch beäugt oder gar als lächerlich abqualifiziert werden. Hier schien es das normalster der Welt – ja fast schick  zu sein, ekstatisch mitzusingen, mitzutanzen und offen und mit voller Inbrunst seinen Glauben an Jesus zu bezeugen. Meist fehlt mir in den theologischen Aussagen die inhaltliche Tiefe, aber das ist wohl einfach in vielen Fällen nicht gefragt und gebraucht. Was mir nach drei Monaten an der NEST besonders auffällt, ist dass ich in meine Gedanken und Reflektionen immer wieder auf die Dialektik bzw. das Zusammenspiel von emotionsgeleiteter Spiritualität auf der einen Seite und Theologie, als nach der Prämisse der Logizität agierender Wissenschaft, auf der anderen Seite zurückkomme. Dabei versuche ich stets herauszufinden in wieweit wir Europäer und in wieweit unsere Kommilitonen aus dem Nahen Osten in ihren

Denkstrukturen von ihrer religiösen Erziehung, ihrer Herkunft und ihrem Umfeld beeinflusst sind. Ich nehme wahr, dass wir alle hin und wieder in unseren alt-eingesessenen Denkstrukturen gefangen sind und bisweilen eine gewisse Arroganz gegenüber den verschiedenen, andersartigen Zugängen zu religiösen Themen entwickeln. Ich habe zum Beispiel bemerkt, dass ich manchmal allzu schnell eine religiöse Haltung als unreflektiert, irrational und engstirnig aburteile ohne mir selber und anderen einzugestehen, dass die Forderung nach Logizität im Glauben manchmal gar nicht hinlänglich oder gar illegitim ist. Außerdem muss man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass gerade was den interreligiösen Dialog angeht, die Menschen hier mit einem ganz anderen Hintergrund und ganz anderen Vorzeichen an jene Themen herangehen, schlichtweg aufgrund der negativen Erfahrungen die sie teilweise in ihrem Leben machen mussten. So stelle ich beispielsweise fest, wie unglaublich ärgerlich mich die negative Haltung einer der NEST-Bewohnerinnen gegenüber unseren muslimischen Glaubensbrüdern macht, doch was weiß ich schon über ihre religiöse Erziehung, ihre Erfahrungen und ihre Besorgnisse? Rationale Reflektion ist in diesem Bereich eben nicht das Einzige, was in die Meinungsbildung der Menschen mit hineinspielt.

Am Wochenende stand dann ein weiterer „Field Visit“ an, der uns diesmal in den Norden Libanons in zwei griechisch-orthodoxe Klöster führten. Im Konvent von Kaftoun besichtigten wir einen Frauenorden und sprachen mit der Ordensvorsteherin. Sie erzählte uns vom straffen Alltag der Nonnen in diesem Kloster, hauptsächlich bestimmt von stillem Gebet, Liturgien, Hand- und Übersetzungsarbeiten. Viel Kontakt zur Außenwelt schienen die Nonnen hier nicht zu haben – besonders wichtig ist für sie die intensive Beziehung zu Gott. Sie sind einen Ehebund eingegangen, der durch jeden äußeren Einfluss gefährdet werden würde. Der Kontakt zur eigenen Familie wird bewusst unterbunden, es soll möglichst während aller Unternehmungen und Hausarbeiten der Rosenkranz gebetet werden und die Nonnen tragen schwarz, weil sie nach Erklärung der Vorsteherin für diese Welt gestorben sind. Nur das Gesicht sollte unbedeckt sein, um Gott begegnen zu können.

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Da ich für diese Welt noch lange nicht gestorben bin, Geist und Fleisch bei mir noch verbunden sind und in relativer Eintracht leben, stand tags darauf ein Programmpunkt ganz anderer Art auf der Agenda: Der Beirut Blom Marathon 2011, dem ich zumindest für die Distanz von 10km beiwohnte. Meine ersten Erfahrungen mit der libanesischen Sportlichkeit hatte ich ja bereits beim Nike-Run machen können. Dass ein solch großes, offizielles Event so chaotisch und unorganisiert ablaufen würde, hat mich aber dennoch überrascht. Die Strecke wurde erst nachts mithilfe von lauten Polizeihupen und -durchsagen von den parkenden Autos befreit, sodass man die Nacht vor dem Marathon eigentlich kaum Schlaf finden konnte. Umkleidemöglichkeiten gab es natürlich keine und die Massen von Teilnehmern standen dicht gedrängt vor der Startlinie, sodass erst einmal ca. 15min nach Startschuss vergingen, ehe man überhaupt mal losrennen konnte. Rennen wollten die meisten aber sowieso nicht, sodass die NEST-Crew wohl nahezu die einzigen tatsächlichen „Läufer“ waren. Der Rest spazierte, erfreute sich an den unzähligen Snickers, die auf der Strecke verteilt wurden, feierte, lachte, und genoss schlichtweg die schöne Sonntagssonne. Eigentlich glich das ganze mehr einem Karnevalsumzug mit Verkleidung, Luftballons und viel Musik. Die Versorgung im Ziel war prächtig, die Stimmung war super und es gab ein T-Shirt, eine Medaille und verschiedene Goodies geschenkt – alles in allem also eine super Erfahrung! Fazit: beirutis ma fihun yurkudu, bas fihun yunbusto! (Beiruties können nicht rennen, aber sie können Spaß haben)

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In der darauffolgenden Woche stand ein Vortrag des ehemaligen libanesischen Informations- und Kultusministers Tarek Mitri an. Ich hatte ihn bereits einmal bei einer Tagung in Münster miterleben dürfen. Das Thema seiner Rede war diesmal „The Middle Eastern Churches and the Arab Spring“. Spannend fand ich vor allem seine Prognose, dass es sich bei der gegenwärtigen islamistischen Bewegung, die ja nun bei der ein oder anderen Neuwahl in den Protestländern an Stimmen gewinnen konnte, lediglich um eine Welle handele, die mit der Zeit abebben würde und einer anderen Bewegung Platz machen würde. Deshalb sei der Lösungsweg nicht eine langwierige Untersuchung des Islamismus, sondern viel nötiger sei es subtile Despotismus und deren Mechanismen der Beeinflussung und Einschüchterung aufzudecken. Die Aufgabe der Kirche als eine Institution sei dabei nicht nur Präservation, sondern auch Glaubenszeugnis abzulegen, christliche Werte zu leben und den Dienst am Nächsten zu vollziehen. Dabei dürfen Christen nicht ihren Zukunftsängsten erliegen, sondern müssen dem Gemeinwohl dienen und sich dem starken Verbund mit der muslimischen Mehrheit bewusst werden, der schlicht durch die gemeinsame Staatsbürgerschaft generiert wird.

Um jenen starken Verbund mit den muslimischen, genauer gesagt shiitischen Glaubensbrüdern auch praktisch umzusetzen und zu erleben, fuhren wir am nächsten Abend in die Fadlallah Moschee im shiitischen Viertel im südlichen Beirut um den Ashura-Festlichkeiten beizuwohnen. Zuvor hüllten wir uns in schwarze Roben und Kopftücher, da es sich bei Ashura um ein Trauerfest im Gedenken an die Ermordung Husseins, einer der Söhne Alis, handelt. Es war interessant zu beobachten, dass einige von uns diese Verkleidung aufregend und spannend fanden, andere dem ganzen skeptisch gegenüberstanden und sich in diesem Aufzug nicht sonderlich wohlfühlten. Ich für meinen Teil habe es sehr genossen auch äußerlich in diese andere „Welt“ einzutauchen, weil ich das Gefühl hatte auf diese Weise einen tieferen Einblick zu bekommen. Aufgrund der Informationen, mit denen uns unsere Islam-Professorin Neyla Tabbara zuvor versorgt hatte, habe ich mit einer sehr intensiven, emotionalen Atmosphäre gerechnet. Als wir den Bereich für die Frauen in der Moschee betraten bot sich mir allerdings ein anderer Anblick. Das ganze glich eher einem großen Wohnzimmer, in dem Frauen beinanders saßen und schnatterten, während die Kinder um sie herum fangen spielten. Im Verlauf der Gedenkfeier gab es dann aber doch auch noch Momente, die eher dem nahe kamen, was ich erwartet hatte. Gerade bei den rituellen Gebeten und Gesängen partizipierten die Frauen viel stärker und man sah einige Frauen tatsächlich tief betroffen, weinend und trauernd. Mehr zu den Erfahrungen, die ich an diesem Abend gemacht habe, kann man mal wieder in einem Paper lesen, dass ich für das Islam-Seminar verfasst habe.

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Am nächsten Tag gab es eine etwas fröhlichere Feier zu Ehren der ehemaligen Präsidentin der NEST Dr. Mary Mikhael. Mitgenommen habe ich von diesem Termin: gutes Essen, einen schönen Blick über Beirut aus dem 21. Stock eines schicken Hotels und einen kubanischen Zigarillo inklusive erhellendem Gespräch mit einem der Empfangsgäste über Hanfanbau im Libanon

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Die vergangene Woche begann mit einem weiteren „Field Visit“ im Armenisch-Orthodoxen Katholikat. Besonders deutlich wurde hier sowohl im Gespräch mit dem Erzbischof, als auch bei der Führung durch das Museum, wie traumatisch der Genozid von 1915/16 für das Armenische Volk war und wie wichtig eine offizielle Anerkennung und Entschuldigung von türkischer Seite für sie wäre.

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Die spannendsten und schönsten Erlebnisse dieser Woche habe ich sicherlich auf einem kleinen Roadtrip in den Norden des Libanon gemeinsam mit Natalia und Elly gemacht. Für die Tour haben wir uns ein Auto gemietet und ich habe mich in den wahnwitzigen libanesischen Verkehr gewagt. Definitiv eine Überwindung, aber wenn man sich ein wenig an die Abwesenheit von jeglichen Verkehrsregeln gewöhnt hat macht es sogar ein wenig Spaß. Unsere erste Destination war Tripolis, wo wir bei schönstem libanesischem Sonnenwetter die kleinen Souqs, Moscheen, die Zitadelle und die Altstadt entdeckt und durchwandert haben. Der Anblick, der sich mir hier bot glich in etwa dem Bild, das ich mir vor meiner Abreise von Beirut gemacht hatte. Der Einfluss des Westens hat diese Stadt noch nicht so stark im Griff wie Beirut und die arabisch-orientalische Atmosphäre kann hier noch in vollen Zügen genossen werden. Die Menschen waren unglaublich freundlich und erfreulicherweise weniger aufdringlich als ich es zum Beispiel in Kairo erlebt habe. Über die libanesische Hilfsbereitschaft waren wir an diesem Tag besonders dankbar, als der Vorderreifen unserer gemieteten Schrottlaube plötzlich platt war und sofort eine Bande Automechaniker zur Stelle war, uns den Reifen aufpumpte, uns zur Werkstatt geleitete, den Reifen flickte und uns für den ganzen Aufwand nur 2,50€ verrechnen wollte. Man kann wohl guten Gewissens behaupten, dass die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes für Tripolis völlig ungerechtfertigt sind! Danach fuhren wir noch zum Hafen Tripolis’ „Al Mina“, aßen Falafel bei Sonnenuntergang und machten uns auf den Weg nach Balamand, wo wir in einem Griechisch-Orthodoxen Kloster unsere Nachtlaube einrichten wollten. Ich hatte zuvor mit dem Bischof des Klosters gesprochen und so wurden wir vor Ort herzlich willkommen geheißen, durften der Abendvesper beiwohnen, bekamen Abendessen und lernten sehr nette Studenten der dortigen Theologischen Fakultät kennen. Die Umgebung und die Unterkunft im Kloster waren so schön, dass Elly und ich nun beschlossen haben dort auch Heilig Abend zu verbringen, sofern Bischof Ghattas einverstanden ist.

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Am nächsten Tag fuhren wir dann noch nach Jeitta um die dortige Tropfsteinhöhle zu besichtigen ˗ ein wirklich beeindruckendes Naturspektakel. Weil der Donnerstag aber leider einer der wenigen libanesischen Regentage war, fuhren wir schon zur Mittagszeit zurück nach Beirut. Letztendlich war ich ganz froh über die Entscheidung, weil wir in Beirut selbst aufgrund des Verkehrs und des unmöglichen Straßensystems zwei Stunden gebraucht haben um von der NEST zur etwa 1km weit entfernten Autovermietung zu gelangen und wir die Autoübergabe so wenigstens noch vor Ladenschluss über die Bühne bringen konnten.

 

Das waren im Großen und Ganzen die Unternehmungen und Erlebnisse der letzten Wochen.

Vielleicht noch ein Satz zu meinen Arabisch-Bemühungen: Dank meines sehr netten shiitischen Tandempartners, geht es in ganz kleinen aber feinen Schritten vorwärts. Er ist Medizinstudent an der Arab-Lebanese University, spricht nach zwei Monaten Unterricht im Goetheinstitut schon sehr gut Deutsch und möchte nächstes Jahr für seinen Facharzt nach Deutschland gehen. Er ist sehr ambitioniert, wirklich clever und lustig. Zudem sind unsere wöchentlichen Treffen eine gute Möglichkeit etwas mehr über den Shiitischen Glauben zu erfahren. Er selbst ist sehr gläubig und legt viel Wert auf die Traditionen und Regeln, die seine Religion ihm auferlegt. So darf er mir zum Beispiel nicht die Hand schütteln und auch in kein Café gehen, in dem Alkohol verkauft wird. Trotz alledem ist er erstaunlich offen und witzig. Bei unserem letzten Treffen habe ich ihm das hessische „Wörmsche auf dem Törmsche“ beigebracht, was ihm sehr gefallen hat. Er lebt mit seiner Mutter und zwei seiner fünf Geschwister zusammen im Süden Beiruts. Sein Vater arbeitet in Saudi Arabien. Nächste Woche wollen wir zusammen mit seinen Brüdern bowlen gehen.

Was mein Alltagsleben betrifft, kann ich sagen, dass ich wie in jeder anderen Stadt begonnen habe, meine ganz eigene Infrastruktur zu entwickeln so meine diversen Lieblingsläden, -joggingrouten, -cafés und -pubs ausfindig gemacht habe, die mir meine Freizeit verschönern. Ich fühle mich immer noch unglaublich wohl in dieser Umgebung und kann mir gar nicht vorstellen, das alles nächstes Jahr schon wieder hinter mir lassen zu müssen.

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Mal wieder ein kleines Gedicht zum Ende, diesmal von einem Vertreter des Sufismus, verfasst während der poetische-theophistischen Periode des 12/13 Jh.:

 

Before now, I used to deny my friend

If his religion was not close to mine

Now, my heart can take on any form:

A meadow of gazelles,

A cloister for monks,

For the idols, sacred ground,

Ka’ba for the circling pilgrim

The tables of the Torah,

The Scrolls of the Qu’ran.

My creed is Love;

Wherever its caravan turn along the way,

That is my belief,

My faith.

 

Ibn Arabi(1240)

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