وهلّأ لوين؟ (Where do we go now?)
Gerade in der Anfangszeit in einem neuen Land, einer neuen Uni, einem neuen Zuhause und neuem persönlichen Umfeld könnte man nahezu jeden Tag einen kleinen Bericht verfassen. Davon hält mich allerdings nicht nur die sehr gemächlich arbeitende Internetverbindung ab, sondern auch die vielen Unternehmungen, Readings und das sehr einnehmende, aber schöne Gemeinschaftsleben. Where to begin?
Field Visits
Was mich in den letzten Tagen wohl am meisten umgetrieben hat, waren unsere ersten Field Visits mit dem Kurs „Contemporary Eastern Churches“, geleitet vom Dekan der NEST Dr. George Sabra. Am Sonntag haben wir unseren ersten Assyrisch-Orthodoxen Gottesdienst erleben dürfen. Die Assyrer, die sich 431 n. Chr. als erste der Orientalischen Kirchen von der restlichen Christenheit abgespalten haben, verfügen über eine sehr lange alteingesessene Tradition. Man konnte im Gottesdienst spüren, dass jener Kirche die Bewahrung ihrer demarkierenden Traditionen besonders am Herzen liegt.
Der Gottesdienstverlauf gleicht einer Choreographie: Fast wie in einem Tanz oder einem Schauspiel vollzieht der Priester seine Bewegungen gemeinsam mit den Diakonen als seinen Nebendarstellern. Ein großer Teil des Gottesdienstes wird im alten, klassischen ostsyrischen Dialekt abgehalten. So z.B. das Credo, das Vater Unser und einige der gesungenen Hymnen. An der Partizipation der Gemeinde konnte man sehr gut erahnen, wann sich ein Wechsel vom klassischen zum modernen Syrisch vollzog. Ein besonders Erlebnis war die Eucharistie. Durch die sehr offene und einladende Art des Priesters und der restlichen Gemeindemitglieder fühlte man sich wirklich in die Mahlgemeinschaft aufgenommen. Im Wechsel mit dem Chor war es uns erlaubt, auf die syrischen Gesänge des Chors mit deutschen Kirchenliedern zu antworten. Eine spirituelle Erfahrungen, die man erlebt haben muss.
Danach ergab sich noch die Möglichkeit für ein Gespräch mit dem sehr offenen und warmherzigen Priester, bei dem einige Fragen bezüglich Liturgie und Kirchentradition geklärt werden konnten.
Ein mir sehr einprägsames Zitat spiegelt seinen offenen theologischen Standpunkt, auch was die Beziehung seiner Kirche zu den Chaldäern betrifft (ehemalige Assyrer, die sich im 16. Jahrhundert mit Rom reuniert haben) besonders gut wider: „Whoever can glorify God – let him!“
Mit einem Erlebnis ganz anderer Art wurden wir am nächsten Tag konfrontiert. Dr. Sabra hatte ein Zusammentreffen (das Wort Dialog erscheint mir in diesem Zusammenhang gänzlich unangebracht!) mit dem Erzbischof der Syrisch-Orthodoxen Gemeinde innerhalb der Region Mount-Lebanon organisiert. ‚Seine Eminenz‘ George Saliba entpuppte sich nach einigen netten, offen wirkenden Begrüßungsworten als harter ideologischer Brocken, der von seinem Standpunkt nicht einen Zentimeter weit abweichen konnte und wollte. Seine Kernthesen waren in etwa diese: Moslems sind schlimmer als der Teufel, weil sie immer wieder seine Glaubensbrüder verfolgt und ermordet haben und im Westen (speziell Frankreich, Deutschland, Großbritannien – wie er auf diese Trias kommt, ist mir noch unersichtlich) ist kein einziger wahrer Christ zu finden, zumindest nicht innerhalb der gesamten Führungsriege. Leider ließ er auch jegliche Fähigkeit, auf Fragen oder kritische Anmerkungen einzugehen, vermissen. Es mussten nur einzelnen Stichworte fallen, um den Kreislauf seiner einseitigen Argumentation wieder in Gang zu bringen. Danach waren wir alle einigermaßen aufgewühlt und irritiert, dass sich solch ungebildete, fanatische „Theologen“ immer noch unter den Führungspersönlichkeiten christlicher Denominationen finden lassen können. In jedem Fall eine interessante Erfahrung!
Everyday-Life
Was meinen Tagesablauf bzw. Stundenplan angeht haben sich noch einige Änderungen ergeben: Ich habe beschlossen den Kurs „The doctrine of God“ für eine intensivere Beschäftigung mit der arabischen Sprache und vor allem für intensivere Erkundungen des libanesischen Lebensstils zu opfern. So spannend die Readings für die verschiedenen Kurse sind, das Leben soll sich für mich in diesem Jahr nicht nur in der Bibliothek der NEST abspielen. Unser Sprachkurs findet jetzt doch nicht in Gemmayzeh statt, sondern direkt in unserer Straße. Wir sind eine Gruppe von 5 Leuten, die alle schon ein wenig arabisches Vorwissen mitbringen und sich dreimal die Woche für 1 ½ h treffen, um mit einer netten jungen Muslimin erst einmal den libanesischen Dialekt zu lernen. Ob sich auch noch eine Möglichkeit ergeben wird, das klassische Arabisch zu erlernen, wird sich zeigen.
Was die bisherige Freizeitgestaltung betrifft, kann ich nur immer wieder meine Zufriedenheit mit dem hiesigen Angebot betonen. Die Abende sind gefüllt mit allerlei Unternehmungen: Da gibt es den sonntäglichen Kinoabend, an dem wir im großen Auditorium im Keller der NEST gemeinsam den Film schauen, der jeweils Diskussionsthema im Seminar „Film and Theology“ ist; vielfältige Konzertangebote, die meist sogar umsonst sind; nette Barabende; gemütliches Zusammensitzen bei einem Glas libanesischem Ksara Wein und ein vielfältiges Sportangebot, für das ich als neuer Chairman des Sportscommittee nicht zuletzt selbst verantwortlich bin. Eingeschlossen sind die dienstäglichen Volleyballmatches, Laufrunden an der Corniche (Strandpromenade) und demnächst wohl auch Ping-Pong, Badminton und vielleicht sogar Unterricht in Belly-Dance, wenn wir einen geeigneten Tanzlehrer finden. Es hat sich auch bereits eine kleine Gruppe zusammengefunden, um an einem von Nike organisierten 5-km Run teilzunehmen. Dort konnte man ein gutes Laufshirt abstauben und ein Konzert der libanesischen Rockband á la Tenacious D namens ‚Meen‘ miterleben. Eine interessante Erfahrung, weil die Libanesen wirklich wissen, was ‚Just for fun‘ bedeutet: die Mehrheit der Läufer ist nur spaziert oder hat abgekürzt ˗ eine wirklich erfrischende und unkompetitive Atmosphäre.
Am Mittwoch haben Natalia und ich unseren ersten Chapeldienst absolviert. Dieses tägliche Mittagsgebet wird reihum von den Studenten bzw. den Lehrenden der NEST vorbereitet und abgehalten. Ich denke wir haben uns ganz gut geschlagen. Vielleicht kann ich den kleinen Predigttext und das Gebet noch hochladen.
Unternehmungen
Letzten Freitag (14.10) durften wir ein sehr schönes Konzert des Libanesischen Staatsorchesters miterleben. Gespielt wurde das Stück ‚Scheherazade‘ von Rimski-Korsakov in einer Neuinterpretation mit vielen Improvisationen und Oud-Klängen (ein typisch libanesisches Zupfinstrument) und die 1. Symphonie von Beethoven. Das alles in einer wunderschönen großen Kirche, die zur St. Joseph Universität gehört.
Tags zuvor habe ich mich mit zwei Cousinen zweier Freunde aus Deutschland bei einem Konzert ganz anderer Art getroffen. Es fand in einer Bar namens „Knock on woods“ mitten in Hamra statt. Irgendwas zwischen Prog und Drum’n’Bass brachte uns da zum Tanzen.
Am Samstag (15.10.) haben wir dann an einem 4-stündigen „Walk through Beirut“ teilgenommen. Dabei konnten wir noch einmal systematisch alle Hot-Spots abklappern, hauptsächlich in unserem Viertel Hamra und in Downtown Beirut, und ein paar wichtige Fakten über Geschichte, libanesische Eigenheiten und diverse ‚Fun-Facts‘ aufsaugen.
In der Woche zuvor hatten wir bereits die Möglichkeit in die Berge am Rande Beiruts zu fahren, da dort in einem kleinen Schweizer Hotel der Erntedankgottesdienst der deutschen Gemeinde von Beirut stattfand. Sowohl das anschließende Buffet, als auch die Ruhe und die frische Luft in den Bergen sorgten für die sonntägliche Regeneration. Abends haben wir uns dann noch einen alten Humphrey Bogart Film in einem Rooftop-Café in Gemmayzeh (dem Ausgehviertel von Beirut) angesehen.
An diesem Wochenende (21-23.10.) haben sich noch einige andere Ereignisse ergeben. Zum Einen kamen wir endlich mal dazu das Ausgehviertel auf Herz und Nieren zu prüfen und ich muss sagen, dass mir Hamra um Einiges mehr zusagt als Gemmayzeh. Nicht nur in Hinsicht auf die horrenden Preise, sondern auch was das Publikum betrifft kommt es eher dem Frankfurter als dem Münsteraner Nachtleben gleich. Dennoch ˗ die Barkeeper sind meistens nett und sehr bemüht und die Nüsschen, die hier grundsätzlich mit dem guten Al-Mazha-Bier gereicht werden, schmecken überall fantastisch.
Weitaus spannender als dieses Erlebnis war unser Trip nach Sidon, Ort eines der biblischen Heilungswunder Jesu (Mt 15,21-28), wo sich uns die einmalige Chance bot, einer Konferenz zwischen Muslimen und Christen zum Thema „arabischer Frühling“ beizuwohnen. Zwar war die Konferenz nicht übermäßig gut besucht und unser Dolmetscher erst ab dem zweiten Vortrag verständlich, doch es war wirklich hoch interessant zu sehen, wie muslimische und christliche Intellektuelle über die Revolution – ihre Auslöser, ihren Verlauf, ihre Chancen und ihre Gefahren – nachdachten und diskutierten. Spannend war vor allem, dass es immer wieder um die Frage ging, welche Rolle der Westen bei der Initiation und dem Verlauf der Revolution gespielt hat. War es wirklich die Not des Volkes, die eine Protestbewegung in den verschiedenen Staaten unabdingbar gemacht hat, oder war es der Einfluss des Westen (z.B. via Facebook), der den entscheidenden Hebel umgelegt hat?
Der erste Redner, ein muslimischer Schriftsteller namens Radwan Sayid, äußerte eine überraschend „westliche“ Forderung nach der Trennung von Staat und Religion. Im Nachhinein erfuhren wir von dem christlichen Gastgeber Rev. Dr. Riad Jarjour, dass dieser Mann normalerweise eher fundamental-islamische Ansichten vertrete, heute aber ein ganz anderes Gesicht gezeigt habe.
Die Ausführungen des zweiten Redners, eines muslimisch aber säkularen Journalisten namens Nasri Sayegh, zeugten von einem sehr selbstkritischen und reflektierten Umgang mit den gegenwärtigen Entwicklungen. Er kritisierte das hypokritische Verhalten der arabischen Intellektuellen (viel reden –wenig umsetzen) und den oberflächlichen und unehrlichen Dialog der verschiedenen Religionsrepräsentanten vor der Kamera.
Der Tag ging spannend weiter: Bei einem gemeinsamen, fulminanten Mittagessen kamen wir mit dem sunnitischen Scheich Mohammed, Chef des sunnitischen Zivilgerichts in Sidon, und dem Drusen Ghassan BuDiab ins Gespräch. So konnten wir viele neue Informationen aus einem unerwartet offenen Dialog mit dem Vertreter der sonst eher verschlossenen Drusen ernten und bekamen einen sehr guten Eindruck über sunnitische Ansichten bezüglich Abtreibung und anderer bioethischer Themen.
Nach dem Essen lud der überaus gastfreundliche Scheich uns sieben NEST-ler allesamt in seinen Jeep und bot uns eine tolle Rundfahrt durch Sidon mit spannenden Erklärungen bezüglich der Stadt gepaart mit Geschichten aus seinem eigenen Leben. Außerdem durften wir Zeugen einer offiziellen, von ihm durchgeführten, Vermählung zweier gerademal 21jährigen Muslimen werden und als wäre es nicht genug versorgte er uns noch mit einer ganze Platte voller köstlicher arabischer Halauiat (süßes Gebäck). Außerdem sind wir eingeladen, demnächst an einem Freitagsgebet in der großen Moschee in Sidon teilzunehmen. Ein toller Tag!
Das Verblüffendste für mich ist momentan wohl noch, dass sich der Dialog mit diesem Repräsentanten einer muslimischen Kongregation weitaus schöner, bereichernder und gemeinschaftlicher gestaltet hat als mit dem Repräsentanten der christlichen syrisch-orthodoxen Fraktion wenige Tage zuvor. Was sind die Determinanten für einen gelungenen inter-/intrareligiösen Dialog: Religionszugehörigkeit, (persönlicher) Glaube, Sym-/Antipathie? Welche Entwicklungen werden diese ersten Eindrücke und Bilder wohl im kommenden Jahr noch durchschreiten?
Auf dem Gottesdienstblatt zum Erntedankfest war folgendes Zitat abgedruckt:
„Der Mensch soll säen,
aber in Gottes Hand steht die Ernte.
Für das, was ich tue, bin ich verantwortlich.
Was ich wirke, waltet Gott.“ (Jeremias Gotthelf)